Reinkarnation | Der 14. Dalai Lama (2024)

(Übersetzt aus der englischsprachigen Fassung, der das tibetische Original zugrunde lag)

Einführung
Ich wende mich an meine tibetischen Landsleute innerhalb und außerhalb Tibets, an alle, die der tibetischen buddhistischen Tradition folgen, und an jeden Einzelnen, der Tibet und den Tibetern verbunden ist: Dank der Klugheit unserer früheren Könige, Minister und gelehrten Meister erlebte die vollständige Lehre des Buddha mit ihren schriftlich niedergelegten und in der Praxis erfahrenen Lehren der Drei Fahrzeuge und der Vier Arten des Tantra und der damit verbundenen Themen und Disziplinen eine hohe Blüte im Schneeland. Tibet war für die Welt ein Quell buddhistischer und verwandter kultureller Traditionen. Insbesondere hat es einen bedeutenden Beitrag zum Glück zahlloser Wesen in Asien, einschließlich derer in China, in Tibet und in der Mongolei, geleistet.

Reinkarnation | Der 14. Dalai Lama (1)

Bei der Bewahrung der buddhistischen Tradition in Tibet entwickelten wir eine eigene Tradition der Erkennung von Reinkarnationen gelehrter Meister, was sowohl für den Dharma als auch für die fühlenden Wesen, vor allem für die mönchische Gemeinschaft, außerordentlich hilfreich war.

Seit der weise Gedun Gyatso im fünfzehnten Jahrhundert als Reinkarnation des Meisters Gedun Drub erkannt und bestätigt und damit der Gaden Phodrang Labrang (die Institution des Dalai Lama) begründet wurde, sind die nachfolgenden Reinkarnationen erkannt worden. Die dritte Inkarnation erhielt den Titel Dalai Lama. Der 5. Dalai Lama, Ngawang Lobsang Gyatso, errichtete im Jahre 1642 die Gaden-Phodrang-Regierung und wurde damit das geistliche und politische Oberhaupt Tibets. Im Laufe von über 600 Jahren seit Gedun Drub ist eine Reihe zweifelsfreier Reinkarnationen in der Stammlinie des Dalai Lama erkannt worden.

Die Dalai Lamas haben seit 1642 über einen Zeitraum von 369 Jahren die Funktionen sowohl der politischen wie auch der geistlichen Führer Tibets ausgeübt. Ich habe dies jetzt aus eigenem freien Willen beendet und bin stolz und zufrieden darüber, dass wir ein demokratisches Regierungssystem fortsetzen können, wie es auch anderswo auf der Welt gedeiht. Ich habe ja schon 1969 klargestellt, dass befugte Personen darüber entscheiden sollten, ob die Reinkarnationen des Dalai Lama in Zukunft fortbestehen sollen. Da es aber an klaren Richtlinien fehlt für den Fall, dass die betroffene Öffentlichkeit den starken Wunsch nach Fortsetzung der Institution der Dalai Lamas äußert, besteht ein offenkundiges Risiko, dass politische interessierte Kräfte das Reinkarnationssystem zur Durchsetzung ihrer eigenen politischen Pläne missbrauchen. Daher erscheint es mir wichtig, dass wir, solange ich noch körperlich und geistig bei Kräften bin, klare Richtlinien zur Erkennung des nächsten Dalai Lama entwerfen, so dass kein Raum für Zweifel oder Täuschung bleibt. Damit diese Richtlinien in vollem Umfang verständlich sind, ist es wichtig, das System der Tulku-Erkennung und die dahinterstehenden Grundkonzepte zu verstehen. Deshalb möchte ich sie hier kurz erläutern.

Frühere und zukünftige Leben
Um Reinkarnation oder die Realität von Tulkus zu bejahen, muss man auch die Existenz früherer und zukünftiger Leben bejahen. Fühlende Wesen kommen aus ihren früheren Leben in das gegenwärtige Leben und werden nach dem Tode wiedergeboren. Diese kontinuierliche Wiedergeburt wird von allen altindischen spirituellen Traditionen und philosophischen Schulen anerkannt, mit Ausnahme der Charvakas, die eine materialistische Bewegung waren. Manche modernen Denker verneinen frühere und zukünftige Leben, da diese nicht erfahrbar seien. Andere kommen auf dieser Basis zu nicht so eindeutigen Schlussfolgerungen.

Zwar bejahen viele religiöse Traditionen die Wiedergeburt, aber sie unterscheiden sich in ihren Ansichten über das, was da wiedergeboren wird, wie es wiedergeboren wird und wie es die Übergangszeit zwischen zwei Leben überbrückt. Manche religiöse Traditionen bejahen die Aussicht auf ein zukünftiges Leben, lehnen aber die Idee vergangener Leben ab.

Buddhisten glauben im Allgemeinen, dass es keinen Anfang des Geburtszyklus gibt, sondern dass sie, wenn sie durch Überwindung ihres Karma und ihrer Unwissenheit und leidverursachenden Emotionen die Befreiung aus dem Zyklus der Existenzen erlangt haben, nicht mehr unter diesen Bedingungen wiedergeboren werden. Daher glauben Buddhisten zwar, dass die Wiedergeburten als Folge von Karma und leidverursachenden Emotionen ein Ende haben werden, aber die meisten philosophischen Schulen des Buddhismus gehen davon aus, dass damit der Bewusstseinsstrom selbst nicht zu Ende geht. Frühere und zukünftige Wiedergeburten abzulehnen würde dem buddhistischen Verständnis vom Ursprung, Pfad und Ergebnis widersprechen, wonach auf Basis des disziplinierten Geistes Glück und auf der Basis des undisziplinierten Geistes Leiden entsteht. Wenn wir die Argumente, die gegen die Wiedergeburt angeführt werden, akzeptieren, dann müssen wir logischerweise auch akzeptieren, dass die Welt und ihre Bewohner ohne Ursachen und Bedingungen zustande kommen. Daher muss man als Buddhist konsequenterweise die frühere und zukünftige Wiedergeburt bejahen.

Für diejenigen, die sich an frühere Leben erinnern, ist die Wiedergeburt eine eindeutige Erfahrung. Die meisten gewöhnlichen Wesen jedoch vergessen ihre früheren Leben, wenn sie den Prozess von Tod, Zwischenstadium und Wiedergeburt durchlaufen haben. Da frühere und zukünftige Wiedergeburten [ohne diese direkte Erfahrung] schwer erkennbar sind, müssen wir auf logische Beweise zurückgreifen, um frühere und zukünftige Wiedergeburten nachzuweisen.

In den Worten des Buddha und in den diesbezüglichen Kommentaren finden sich viele unterschiedliche logische Argumente zum Beweis der Existenz früherer und zukünftiger Leben. Kurz zusammengefasst laufen sie auf vier Punkte hinaus: dass den Dingen immer Ursachen von ähnlicher Art vorausgehen, dass den Dingen eine substantielle Ursache vorausgeht, dass der Geist Prägungen aus der Vergangenheit [in dieses Leben] mitbringt, und dass [manchen Menschen] Erlebnisse aus der Vergangenheit erfahrbar geworden sind.

Letztlich basieren all diese Argumente auf der Vorstellung, dass das Bewusstsein aufgrund seiner Natur von Klarheit und Bewusstheit eine gleichartige klare und bewusste Entität als substantielle Ursache haben muss. Das Bewusstsein kann keine andere Entität, wie etwa ein unbeseeltes Objekt, als seine substanzielle Ursache haben. Das versteht sich von selbst. Durch logische Analyse folgern wir, dass ein neuer Strom von Klarheit und Bewusstheit nicht ohne Ursachen oder durch völlig andersartige, unverbundene Ursachen zustande kommen kann. Wir sehen, dass Bewusstsein nicht im Labor erzeugt werden kann, und daraus folgern wir, dass nichts die Kontinuität subtiler Klarheit und Bewusstheit auslöschen kann.

Soweit ich weiß, hat es noch kein moderner Psychologe, Physiker oder Neurowissenschaftler vermocht, die Erzeugung von Bewusstsein aus Materie oder ohne Ursache zu beobachten oder vorauszusagen.
Es gibt Menschen, die sich an ihr unmittelbar vorausgegangenes Leben oder sogar an mehrere frühere Leben erinnern können und auch in der Lage sind, Orte und Verwandte aus diesen Leben wiederzuerkennen. Das hat es nicht nur in der Vergangenheit gegeben. Auch heute gibt es viele Menschen im Osten wie im Westen, die sich Ereignisse und Erfahrungen aus ihren früheren Leben ins Gedächtnis rufen können. Dies zu leugnen wäre keine aufrichtige und unvoreingenommene Art zu forschen, denn es liefe diesen offensichtlichen Beweisen zuwider. Das tibetische System der Erkennung von Reinkarnationen ist eine authentische Untersuchungsform, die auf der Erinnerung von Menschen an ihre früheren Leben basiert.

Wie Wiedergeburt stattfindet
Es gibt zwei Arten, nach denen jemand nach seinem Tod wiedergeboren werden kann: Wiedergeburt unter dem Einfluss von Karma und verwirrenden Emotionen und Wiedergeburt durch die Kraft von Mitgefühl und Wunschgebeten. Ersteres bedeutet, dass aufgrund von Unwissenheit negatives oder positives Karma erzeugt wird, das sich in Form von Veranlagungen dauerhaft im Bewusstsein niederschlägt. Diese Anlagen werden durch Verlangen und Greifen reaktiviert und treiben uns so in das nächste Leben. Dann werden wir, ohne darauf Einfluss zu nehmen können, in höheren oder niedrigeren Existenzformen wiedergeboren. Das ist die Form, in der gewöhnliche Wesen unaufhörlich in einem Kreislauf durch die Existenzen wandern. Aber auch unter diesen Bedingungen können gewöhnliche Wesen durch tugendhafte Praktiken im täglichen Leben eifrig nach Positivem streben. Sie machen sich mit heilsamen Bewusstseinszuständen vertraut, die zum Zeitpunkt des Todes reaktiviert werden und ihnen dann ermöglichen können, in einer höheren Existenzform wiedergeboren zu werden. Dem gegenüber werden die höheren Bodhisattvas, die den Pfad des Sehens erreicht haben, nicht durch die Kraft ihres Karmas und aufgrund von Unwissenheit und verblendeten Emotionen wiedergeboren, sondern durch die Kraft ihres Mitgefühls für fühlende Wesen und aufgrund ihrer Gebete, anderen zu nützen. Sie sind in der Lage, Ort und Zeit ihrer Geburt und ebenso ihre zukünftigen Eltern zu wählen. Eine solche Wiedergeburt, die allein dem Wohle anderer dient, ist die zweite Art der Wiedergeburt, die Wiedergeburt durch die Kraft von Mitgefühl und Gebet.

Was Tulku bedeutet
Der tibetische Brauch, erkannten Reinkarnationen das Epitheton „Tulku“ (Emanationskörper des Buddha) zu verleihen, geht wohl auf eine Zeit zurück, als Praktizierende es als Ehrentitel für ihren Lama benutzten, aber inzwischen ist es zu einer allgemeinen Bezeichnung geworden. Generell bezieht sich die Bezeichnung Tulku auf einen bestimmten Aspekt eines Buddha, und zwar auf einen der drei oder vier im Sutra-Fahrzeug beschriebenen Dimensionen seiner spirituellen Verwirklichung, den kayas („Buddhakörper“). Gemäß der Erklärung dieser Aspekte eines Buddha hat selbst eine Person, die völlig von Unwissenheit, leidverursachenden Emotionen und Karma gefangen ist, das Potential, den Wahrheitskörper (Dharmakaya) zu erlangen, der den „Weisheits-Wahrheitskörper“ und den „Natürlichen Wahrheitskörper“ umfasst. Der Erstere bezieht sich auf den erleuchteten Geist eines Buddha, der alles direkt und präzise, so wie es ist, in einem Augenblick sieht. Er ist infolge der über einen langen Zeitraum erfolgten Akkumulation von Verdienst und Weisheit frei von allen Formen verblendeter Emotionen wie auch von deren Veranlagungen. Der Letztere, der Natürliche Wahrheitskörper, bezieht sich auf die Leerheit des allwissenden erleuchteten Geistes. Beide zusammen sind Aspekte der Buddhas, die sie nur selbst unmittelbar erleben. Da sie anderen nicht direkt zugänglich sind, sondern nur den Buddhas untereinander, ist es notwendig, dass die Buddhas sich in einer für fühlende Wesen zugänglichen körperlichen Form manifestieren, damit sie diesen helfen können. Daher ist der höchste körperliche Aspekt eines Buddha der „Körper der Glückseligkeit“ (Shambhogakaya), der höheren Bodhisattvas zugänglich ist und fünf bestimmte Merkmale aufweist wie z.B. das Residieren im Akanishta-Himmel. Aus dem Körper der Glückseligkeit manifestieren sich die Myriaden von Emanationskörpern (Nirmanakaya) der Buddhas, die als Götter oder Menschen auftreten und auch für gewöhnliche Wesen zugänglich sind. Diese beiden körperlichen Aspekte des Buddha werden als Formkörper bezeichnet, die dem Wohl der anderen bestimmt sind.

Der Emanationskörper existiert in dreifacher Form: a) als „Körper der höchsten Emanation“ wie der historische Buddha Shakyamuni, der die zwölf Taten eines Buddha manifestierte und als solcher an dem von ihm gewählten Ort geboren wurde; b) als „Körper der künstlerischen Emanation“, die anderen dadurch dient, dass diese als Handwerker, Künstler usw. auftreten; und c) als „Körper der inkarnierten Emanation“, in der Buddhas in ganz verschiedenen Formen wie Menschen, Gottheiten, Flüsse, Brücken, Heilpflanzen und Bäume auftreten, um fühlenden Wesen zu helfen. Von diesen drei Typen des Emanationskörpers fallen die Reinkarnationen spiritueller Meister, die in Tibet als „Tulkus“ erkannt und bekannt sind, unter die dritte Kategorie. Unter diesen Tulkus können viele sein, die tatsächlich Emanationskörper von Buddhas sind. Aber das muss nicht unbedingt auf alle von ihnen zutreffen, es kann auch viele Tulkus geben, die Reinkarnationen von höheren Bodhisattva-Heiligen sind, von anfänglichen Bodhisattvas auf dem Weg der Ansammlung und Vorbereitung oder sogar von Meistern, die offensichtlich diesen Weg eines Bodhisattva noch erst beschreiten müssen. Deshalb wird der Titel „Tulku“ an reinkarnierte Lamas vergeben, weil sie entweder erleuchteten Wesen gleichen oder eine enge Verbindung mit bestimmten Eigenschaften erleuchteter Wesen aufweisen.

Dies zeigt ein Zitat von Jamyang Khyentse Wangpo:

„Reinkarnation geschieht, wenn jemand nach dem Ableben seines Vorgängers wiedergeboren wird; Emanation ist eine Manifestation, ohne dass ihr Ursprung zuvor gestorben ist.“

Die Erkennung von Reinkarnationen
Die Praxis, die Identität einer Person durch Abgleichung ihres früheren Lebens zu erkennen, bestand schon zu Lebzeiten von Buddha Shakyamuni. In den vier Agama-Abschnitten des Vinaya Pitaka, in den Jataka-Geschichten, im Sutra von den Weisen und den Törichten, im Sutra der Einhundert Karmas und in anderen Texten, in denen der Tathagata das Wirken des Karma offenbarte, finden sich viele Belegstellen, die unzählige Berichte wiedergeben, wie die Auswirkungen bestimmter in einem früheren Leben erzeugter Taten von einer Person in ihrem gegenwärtigen Leben erfahren werden. Auch in den Lebensberichten indischer Meister, die nach dem Buddha lebten, werden in vielen Fällen deren frühere Geburtsorte offenbart. Solche Geschichten gibt es viele, aber ein System der Erkennung und Bezifferung von Reinkarnationen gab es in Indien nicht.

Das System der Erkennung von Reinkarnationen in Tibet
Von früheren und zukünftigen Leben war auch schon in der in Tibet beheimateten Bön-Tradition die Rede, bevor der Buddhismus aufkam. Seit der Verbreitung des Buddhismus in Tibet glauben praktisch alle Tibeter an frühere und zukünftige Leben. Die Suche nach den Reinkarnationen vieler spiritueller Meister, die den Dharma praktizierten, sowie der Brauch, andächtig zu ihnen zu beten, waren überall in Tibet verbreitet. Viele authentische indische und tibetische Schriften – etwa das Mani Kabum, Die Fünffachen Kathang-Lehren, Die Bücher der Kadam-Schüler und der im 11. Jahrhundert von dem großen indischen Meister Dipamkara Atisha verfasste Juwelenkranz: Antworten auf Fragen – erzählen von den Reinkarnationen von Arya Avalokiteshvara, dem Bodhisattva des Mitgefühls. Die gegenwärtige Tradition der formellen Erkennung von Reinkarnationen verstorbener Meister begann Anfang des 13. Jahrhunderts mit der Erkennung des Karmapa Pagshi als Reinkarnation des Karmapa Dusum Khyenpa durch dessen Schüler, so wie er es vorausgesagt hatte. Seitdem hat es im Verlauf von über 900 Jahren siebzehn Karmapa-Inkarnationen gegeben. [Der 1. Karmapa, Düsum Khyenpa, lebte von 1110 –1193. A.d.Ü.] Ähnlich hat es seit der Erkennung der Meisterin Kunga Sangmo als Reinkarnation von Khandro Choekyi Dronme im 15. Jahrhundert mehr als zehn Inkarnationen von Samding Dorje Phagmo gegeben. Somit gibt es unter den in Tibet erkannten Tulkus sowohl männliche als auch weibliche Tantra-Praktizierende im Ordinierten- sowohl wie im Laienstand. Dieses System der Erkennung von Reinkarnationen breitete sich allmählich auf andere buddhistische Traditionen und auf die Bön-Tradition in Tibet aus. Heute gibt es in allen tibetischen buddhistischen Traditionen anerkannte Tulkus: in den Traditionen der Sakya, der Gelug, der Kagyu und der Nyingma ebenso wie in denen der Jonang und der Bodong. Nicht zu leugnen ist allerdings auch, dass es unter diesen Tulkus einige gibt, derer man sich schämen muss.

Der weise Gedun Drub, ein direkter Schüler von Je Tsongkhapa, gründete das Kloster Tashi Lhunpo in Tsang und nahm sich seiner Studenten an. Er starb im Jahr 1484 im Alter von 84 Jahren. Obwohl man zunächst nichts unternommen hatte, um seine Reinkarnation ausfindig zu machen, konnte man schließlich nicht umhin, in einem Kind namens Sangye Chopel, das 1476 in Tanak, Tsang, geboren worden war, aufgrund von dessen erstaunlichen und einwandfreien Erinnerungen an sein früheres Leben, eine solche zu erkennen. Damit nahm die Tradition, dass der Gaden-Phodrang-Labrang und später die Gaden-Phodrang-Regierung die jeweiligen Reinkarnationen der Dalai Lamas suchte und bestimmte, ihren Anfang.

Die Methoden der Erkennung von Reinkarnationen Nach der Einführung des Systems zur Erkennung von Tulkus entwickelten sich verschiedene Verfahren zu seiner Umsetzung und gewannen an Bedeutung. Zu den wichtigsten unter ihnen gehörten: der Brief des Vorgängers mit seinen Prophezeiungen und eventuell weitere Instruktionen und Hinweise; die glaubwürdige Erinnerung der Reinkarnation an das frühere Leben und ihre diesbezüglichen Äußerungen; die Identifizierung von Gegenständen, die dem Vorgänger gehörten und das Wiedererkennen von Personen, die ihm nahestanden. Darüber hinaus gibt es weitere Methoden, wie das Befragen verlässlicher spiritueller Meister mit hellseherischen Kräften sowie das Einholen von Prophezeiungen weltlicher Orakel, die durch Medien in Trance sprechen, und das Beobachten von Visionen, die sich in heiligen Seen der Schutzgottheiten manifestieren, wie im Lhamoi Latso, einem heiligen See südlich von Lhasa.

Wenn es mehr als einen aussichtsreichen Kandidaten für die Anerkennung als Tulku gibt und eine Entscheidung schwierig wird, dann gibt es die Praxis, für die endgültige Entscheidung die Teigball-Methode (zen tak) anzuwenden, bei der vor einem heiligen Bild die Kraft der Wahrheit angerufen wird.

Emanation vor dem Ableben des Vorgängers (ma-dhey tulku)
Normalerweise muss eine Reinkarnation die Wiedergeburt eines Menschen sein, der zuvor gestorben ist. Gewöhnliche fühlende Wesen sind generell nicht in der Lage, vor ihrem Tod eine Emanation zu manifestieren (ma-dhey tulku), aber höhere Bodhisattvas, die sich in Hunderten und Tausenden von Körpern gleichzeitig manifestieren können, sind dazu fähig. Im tibetischen System des Erkennens von Tulkus gibt es viele Emanationen, die demselben Geistesstrom wie ihr Vorgänger angehören, es gibt Emanationen, die mit anderen durch die Kraft von Karma und Gebet verbunden sind, und es gibt solche, die durch Segnungen und Ernennung zustande kommen.

Der hauptsächliche Zweck einer Reinkarnation besteht darin, die unvollendete Arbeit des Vorgängers im Dienste des Dharma und der Wesen fortzuführen. Im Falle eines Lamas, der ein gewöhnliches Wesen ist, kann statt einer demselben Geistesstrom angehörenden Reinkarnation eine andere Person, die dem betreffenden Lama durch reines Karma und Gebete verbunden ist, als dessen Emanation anerkannt werden. Alternativ kann der Lama einen Nachfolger ernennen, der entweder sein Schüler ist oder ein junger Mensch, der als seine Emanation erkannt wird. Da diese Optionen auch im Falle eines gewöhnlichen Wesens möglich sind, kann eine Emanation, die nicht demselben Geistesstrom entspringt, stattfinden. In manchen Fällen kann ein hoher Lama mehrere Reinkarnationen gleichzeitig haben, z.B. Inkarnationen von Körper, von Sprache und von Geist u.a. In jüngerer Zeit hat es bekannte Emanationen vor dem Tod gegeben, z.B. Dudjom Jigdral Yeshe Dorje und Chogye Trichen Ngawang Khyenrab.

Der Einsatz der Goldenen Urne
Im Zuge eines zunehmenden Niedergangs der Zeiten und einer – manchmal politisch motivierten – vermehrten Anerkennung von Reinkarnationen hoher Lamas, ist eine zunehmende Zahl von ihnen durch untaugliche und fragwürdige Mittel anerkannt worden, wodurch dem Dharma großer Schaden zugefügt worden ist.

Während des Konflikts zwischen Tibet und den Gurkhas (1791–93) war die tibetische Regierung genötigt, die Mandschus um militärische Unterstützung zu bitten. In der Folge wurden zwar die Truppen der Gurkhas aus Tibet vertrieben, doch legten dann Mandschu-Beamte unter dem Vorwand, die Verwaltung der tibetische Regierung effektiver gestalten zu wollen, einen 29-Punkte-Plan vor. Darin enthalten war der Vorschlag, durch Ziehen von Losen aus einer Goldenen Urne über die Anerkennung von Reinkarnationen der Dalai Lamas, der Panchen Lamas und der Hutuktus (ein mongolischer Titel, der an hohe Lamas vergeben wird) zu entscheiden. So wurde dieses Verfahren im Falle der Anerkennung einiger Reinkarnationen des Dalai Lama, des Panchen Lama und anderer hoher Lamas angewandt. Das Ritual, das dabei zu befolgen war, wurde vom 8. Dalai Lama Jampel Gyatso verfasst. Aber auch nachdem dieses System eingeführt war, wurde es für den 9., den 13. und für mich, den 14. Dalai Lama, außer Kraft gesetzt.

Auch im Falle des 10. Dalai Lama war die authentische Reinkarnation schon gefunden worden, und in Wirklichkeit jedoch wandte man dieses Verfahren nicht an, sondern verkündete nur mit Rücksicht auf die Mandschus, das Procedere sei eingehalten worden.

Tatsächlich wurde das System der Goldenen Urne nur für den 11. und den 12. Dalai Lama angewandt. Der 12. Dalai Lama war allerdings schon erkannt worden, bevor das Verfahren eingesetzt wurde. Somit hat es nur einen einzigen Fall gegeben, dass ein Dalai Lama durch diese Methode erkannt wurde. Ebenso hat es bei den Reinkarnationen des Panchen Lama, außer beim 8. und beim 9., keine Fälle gegeben, in denen diese Methode Verwendung fand. Dieses System war von den Mandschus eingesetzt worden, aber die Tibeter hatten kein Vertrauen darin, weil es jeglicher spirituellen Qualität entbehrte. Wenn es jedoch aufrichtig genutzt würde, dann, so scheint es, könnten wir es mit demVerfahren der Weissagung mit Hilfe der Teigball-Methode (zen tak) vergleichen.

1880, als der 13. Dalai Lama als Reinkarnation des 12. Dalai Lama erkannt wurde, existierten noch Spuren des Priester-Patron-Verhältnisses zwischen Tibet und den Mandschus. Der 13. Dalai Lama wurde durch den 8. Panchen Lama, durch die Weissagungen der Orakel Nechung und Samye sowie durch die Beobachtung von Erscheinungen im Lhamoi Latso erkannt. Deshalb fand das Verfahren mit der Goldenen Urne keine Anwendung. Das geht auch klar aus dem letzten Testament des 13. Dalai Lama aus dem Jahr des Wasser-Affen (1933) hervor, in dem er schreibt:

„Wie jedermann weiß, wurde ich nicht in der herkömmlichen Weise durch das Ziehen von Losen aus der Goldenen Urne ausgewählt, sondern meine Wahl wurde vorhergesagt und prophezeit. Gemäß diesen Weissagungen und Prophezeiungen wurde ich als die Reinkarnation des Dalai Lama erkannt und inthronisiert.“

Als ich 1939 als die vierzehnte Inkarnation des Dalai Lama erkannt wurde, war das Priester-Patron-Verhältnis zwischen Tibet und China schon beendet. Daher bestand keinerlei Notwendigkeit mehr, die Goldene Urne einzusetzen. Es ist allgemein bekannt, dass der damalige Regent von Tibet und die Tibetische Nationalversammlung das Verfahren zum Erkennen der Reinkarnation des Dalai Lama eingehalten hatten und auf die Vorhersagen hoher Lamas und die Erscheinungen im Lhamoi Latso geachtet hatten; die Chinesen waren daran in keiner Weise beteiligt. Trotzdem verbreiteten damit befasste Offizielle der Guomintang später raffiniert in den Zeitungen Lügen, indem sie u.a. behaupteten, sie hätten zugestimmt, vom Einsatz der Goldenen Urne abzusehen, und Wu Chung-tsin hätte über meine Inthronisierung präsidiert. Diese Lüge entlarvte Ngabo Ngawang Jigme, der Vize-Vorsitzende des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses, der in der Volksrepublik China als ein sehr progressiver Mann galt, auf der 2. Tagung des Fünften Volkskongresses der Autonomen Region Tibet (31. Juli 1989). Das wird deutlich, als er am Ende seiner Rede, in der er eingehend die Ereignisse schilderte und dokumentarische Beweise vorlegte, fragte:

„Wozu hat die Kommunistische Partei es nötig, in dieselbe Kerbe zu schlagen und die Lügen der Guomintang fortzuführen?“

Betrügerische Strategie und falsche Hoffnungen
In der jüngsten Vergangenheit gab es Fälle von verantwortungslosen Verwaltern bedeutender Lama-Nachlässe, die untaugliche Methoden der Erkennung von Reinkarnationen praktizierten, und dadurch den Dharma, die mönchische Gemeinschaft und unsere Gesellschaft unterminiert haben. Außerdem haben seit der Zeit der Mandschus chinesische politische Kräfte wiederholt zu verschiedenen hinterhältigen Mitteln gegriffen und bei ihrer Einmischung in tibetische und mongolische Angelegenheiten den Buddhismus, buddhistische Meister und Tulkus als Werkzeuge zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele benutzt. Heute haben die autoritären Herrscher der Volksrepublik China, die als Kommunisten eigentlich die Religion ablehnen, sich gleichwohl in religiöse Angelegenheiten eingemischt, eine „Kampagne zur Umerziehung“ gestartet und die so genannte Order Nr. 5 zur Kontrolle und Anerkennung von Reinkarnationen verkündet, die am 1. September 2007 in Kraft trat. Das ist ungeheuerlich und schändlich. Das Aufzwingen verschiedener untauglicher Methoden zur Erkennung von Reinkarnationen, um unsere eigenen tibetischen kulturellen Traditionen auszulöschen, richtet einen Schaden an, der nur schwer zu beheben sein wird.

Mehr noch, sie sagen, dass sie auf meinen Tod warten und dann einen 15. Dalai Lama ihrer Wahl anerkennen werden. Aus den Vorschriften und Regelungen der jüngsten Zeit und den nachfolgenden Verlautbarungen geht klar hervor, dass sie eine detaillierte Strategie ausgearbeitet haben, um die Tibeter, die Anhänger der tibetischen buddhistischen Tradition und die Weltgemeinschaft zu täuschen. Deshalb gebe ich, in meiner Verantwortung für den Schutz des Dharma und der fühlenden Wesen und um solchen schädlichen Plänen entgegenzuwirken, die folgende Erklärung ab.

Die nächste Inkarnation des Dalai Lama
Wie ich schon erwähnt habe, ist Reinkarnation ein Phänomen, das entweder durch die eigenständige Wahl der betreffenden Person oder zumindest durch die Kraft ihres Karmas, ihrer Verdienste und ihrer Gebete stattfindet. Daher besitzt die Person, die reinkarniert wird, die alleinige legitime Befugnis, darüber zu entscheiden, wo und wie ihre Wiedergeburt erfolgen und wie diese Reinkarnation erkannt werden soll. Tatsache ist, dass niemand die betreffende Person zwingen oder manipulieren kann. Besonders unangebracht ist es, wenn sich ausgerechnet chinesische Kommunisten, die schon die bloße Idee früherer und zukünftiger Leben und erst recht das Konzept reinkarnierter Tulkus ausdrücklich ablehnen, in das System der Reinkarnationen und insbesondere der Reinkarnationen der Dalai Lamas und Panchen Lamas einmischen. Eine derart dreiste Einmischung widerspricht ihrer eigenen Ideologie und entlarvt ihre Doppelmoral. Die Tibeter und alle, die der tibetischen buddhistischen Tradition folgen, werden dies niemals akzeptieren oder billigen.

Im Alter von etwa 90 Jahren werde ich mich mit den hohen Lamas der tibetischen buddhistischen Traditionen, mit der tibetischen Öffentlichkeit und mit weiteren betroffenen Personen, die dem tibetischen Buddhismus verbunden sind, beraten und noch einmal überprüfen, ob die Institution des Dalai Lama fortbestehen soll oder nicht. Auf dieser Grundlage werden wir eine Entscheidung treffen. Wenn entschieden wird, dass die Reinkarnation des Dalai Lama weitergehen soll und dass der 15. Dalai Lama zu ermitteln ist, dann wird die Verantwortung dafür bei den damit befassten Verantwortlichen des Gaden Phodrang Trust des Dalai Lama liegen. Sie sollen dann die einzelnen Oberhäupter der tibetischen buddhistischen Traditionen und die bewährten eidgebundenen Schutzgottheiten des Dharma zu Rate ziehen, die untrennbar mit der Stammfolge der Dalai Lamas verbunden sind. Sie sollen um Rat und Lenkung durch diese Wesen nachsuchen und die Prozedur der Suche und Bestimmung im Einklang mit den alten Traditionen durchführen. Ich werde dazu klar formulierte Anweisungen hinterlassen. Denken Sie daran, dass außer der durch solche legitimen Methoden anerkannten Reinkarnation kein Kandidat anerkannt bzw. akzeptiert werden soll, der von irgendjemandem – und das gilt auch für die Machthaber der Volksrepublik China – zu politischen Zwecken ausgewählt wird.

Der Dalai Lama
Dharamsala
24. September 2011

Reinkarnation | Der 14. Dalai Lama (2024)

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Author: Sen. Emmett Berge

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